Interview: Kita-Kinder schützen durch Sexualpädagogik

Warum spielt Sexualpädagogik in vielen Kita-Konzepten eigentlich keine oder nur eine sehr kleine Rolle? Unter dem Workshop-Titel „Sexuelle Bildung in der Kita – muss das sein? Sexualerziehung und Prävention von Grenzverletzungen und sexuellen Übergriffen“ verdeutlichte Sexualpädagoge Michael Kröger auf dem Deutschen Kitaleitungskongress in Wiesbaden, warum die aktive Auseinandersetzung mit dem Thema so wichtig ist. Im Interview mit Kita-Jobs.com gibt der Experte Einblick in seine Arbeit mit Einrichtungen. Anhand von vielen Praxisbeispielen zeigt er, wie klare Kommunikation im Team und mit den Kindern zu mehr Sicherheit im Umgang mit oft als heikel betrachteten Bereichen führen kann. Letztendlich steht über allem das wichtige Ziel, die Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern und sie gleichzeitig so gut wie möglich durch angewandte Sexualpädagogik zu schützen.

Kita-Jobs.com: Herr Kröger, inwieweit arbeiten Sie als Fachmann mit Kitas zum Thema Sexualpädagogik zusammen?

Michael Kröger: Ich bin Sexualpädagoge und werde von Kitas dazu eingeladen, Schulungen und Fortbildungen durchzuführen. Dabei sehen wir uns die Arbeit im Team genau an: Handeln alle gleich oder handelt jeder nach eigenen Regeln? Dafür bringe ich einige Praxisbeispiele mit. Eine dieser Situationen ist, wenn ein Erzieher ein Kind auf den Schoß nimmt, um es zu trösten. Für solche Fälle müssen klare Absprachen formuliert werden, die besagen: Das sollte vom Kind ausgehen und nicht vom Erzieher. Es geht nicht darum, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, sondern die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen.

Fachkräfte haben aber auch das Recht und die Möglichkeit, „Nein“ zu sagen, wenn das Kind auf den Schoß will. Erzieher übernehmen eine wichtige Vorbildfunktion.

Solche und andere Fälle diskutiere ich mit dem Team gemeinsam und dabei stellen wir fest, dass die Vorstellungen mitunter stark auseinandergehen. Es ist wichtig, dass ein Konsens gefunden und sich auf eine sogenannte Verhaltensampel geeinigt wird. Das macht das Team dann, wenn ich nicht mehr dabei bin.

Eine solche Verhaltensampel und ein sexualpädagogisches Konzept zu haben, hilft dabei, sich auszutauschen über kindliche, sexuelle Aktivitäten. Wenn es das nicht gibt, haben alle Mitarbeiter Angst, etwas von ihrer eigenen Sexualität preiszugeben. Erzieher A beobachtet beispielsweise, dass drei Kinder sich für Doktorspiele zurückziehen. Er denkt: „Ja, das finde ich eigentlich ganz gut, dass das bei uns möglich ist. Aber wir haben es nicht offiziell geregelt und deshalb habe ich Bedenken. Wenn ich meiner Kollegin B davon erzähle, findet sie mich vielleicht viel zu offenherzig und sorglos.“

Erzieherin B denkt vielleicht genau umgekehrt: „Ich finde Doktorspiele nicht gut, aber wenn ich damit ankomme, halten mich alle für verklemmt.“

Gibt es ein klares Konzept, in dem steht, was erlaubt ist und was nicht beziehungsweise unter welchen Bedingungen, braucht es keinen Austausch über persönliche Ansichten mehr.

Sollte ein solches Konzept vom Träger, von der Leitung oder den Erziehern initiiert werden?

Der Impuls muss von oben kommen, denn es handelt sich um einen Qualitätsmanagement-Prozess. Wenn die Mitarbeitenden ohne Rückendeckung von der Leitung darangehen, reiben sie sich auf. Man sollte ebenso die Eltern mit ins Boot holen. Mit neuen Eltern und neuen Kindern tun sich Kitas leichter. Ihnen kann das Konzept mit den Regeln einfach vorgelegt werden. Die Eltern können sich immer noch überlegen, ob sie ihr Kind anmelden oder nicht.

Mit den anderen Eltern, die bereits da sind, kann es zu einer Verhandlung kommen. Dabei ist wichtig, dass die Kita herausstellt, dass sexuelle Bildung und die Möglichkeit, sich selbst zu erfahren, helfen, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und später besser kommunizieren zu können. Es geht immer auch um Schutz vor sexualisierter Gewalt durch Erwachsene und vor Übergriffen unter den Kindern.

Können Sie noch weiter ausführen, warum die Körperwahrnehmung für die Prävention eine so große Rolle spielt?

Sexuelle Bildung ist ein wichtiger Bestandteil des Schutzkonzeptes. Es ist zuerst sehr hilfreich, wenn die Kinder eine Sprache haben für alle Vorgänge und Körperteile einschließlich der Genitalien. Mit dieser Sprache sollten sie von jedem verstanden werden. Das heißt, Umgangssprache wie „Der Onkel hat am Pipi angefasst“ ist zu ungenau. Kinder sollten Wörter wie Vulva oder Scheide kennen.

Zudem ist es gut, wenn die Kinder sich schöne Gefühle machen dürfen und das nicht verurteilt wird. Das geht durch Masturbation aber auch mit anderen Mitteln. Kinder sind sehr körperlich und deshalb beziehen sie den Körper anders ein als Erwachsene. Wenn die Freiräume gegeben sind und diese Erfahrungen mit ihnen aufgearbeitet werden, ist das sehr positiv. Im Sinn von: „Das hat sich jetzt aber schön angefühlt, oder? Es ist völlig in Ordnung, dass Du das machst, aber ziehe Dich dafür doch besser zurück, weil das nicht alle sehen wollen.“

Die Kinder lernen auf diesem Weg, die Grenzen der anderen zu akzeptieren und verstehen, dass sie das Recht haben, „Nein“ zu sagen und nicht alles mitmachen müssen. Durch positive Körpererlebnisse lernen sie, dass es so sein darf, dass körperliche Gefühle sich schön anfühlen.

Als Gegenbeispiel: Wenn Kinder beigebracht bekommen, dass alles Körperliche, gerade wenn es um Genitalien geht, verboten ist und was ganz Schlimmes ist, worüber man nicht spricht, dann ist jeder Übergriff eine Bestätigung von dem, was sie die ganze Zeit über gelernt haben. Sie werden sich Erwachsenen wahrscheinlich nicht anvertrauen und fühlen sich eher mitschuldig. Man könnte ihnen nach einem Missbrauch viel leichter einreden: „Du wusstest doch, dass Du das nicht darfst.“

Können Sie uns Beispiele nennen für bedenkliche körperliche Grenzüberschreitungen im Kita-Alltag?

Man kann mit einem bestimmten Handwerkszeug relativ gut einschätzen, wie es sich in bestimmten Situationen verhält. Übergriffe und Grenzverletzungen haben immer Unfreiwilligkeit und Machtgefälle als Ausgangspunkt. Grenzverletzungen passieren eher ungeplant und sind minderschwer. Bei Übergriffen ist meist eine gewisse Planungsphase im Spiel. Beides kann von Erwachsenen und von anderen Kindern ausgehen – oder auch von Kindern gegenüber den Erwachsenen.

Wenn beispielsweise die Erzieherin dem Kind schon gesagt hat, dass sie nicht an der Brust angefasst werden will und das Kind macht es trotzdem immer wieder. Dann ist es nicht mehr nur eine Grenzverletzung, sondern ein übergriffiges Verhalten. Die Planungsphase ist gegeben, weil das Kind sich entschieden hat, trotz Ermahnung wiederholt an die Brust zu fassen. Man muss es nicht dramatisieren, es bleibt minderschwer und ist nicht strafbar. Aber es ist ein Übergriff. Deshalb ist es wichtig, dass das Kind lernt, dass es mit diesem Verhalten nicht durchkommt – ohne das Kind dadurch zum Täter zu machen.

Ein weiteres Fallbeispiel ist, dass ein 6-jähriges Mädchen einem 5-jährigen Jungen verspricht, dass er mit ihrem Spielzeug spielen darf, sobald sie seinen Penis untersucht hat und er zustimmt. Es ist ein Überreden und dadurch ist keine Freiwilligkeit mehr gegeben. Ein Machtgefälle wird ausgespielt und deshalb wäre es ein Übergriff.

Und wie würde man mit den Kindern diese Situationen aufarbeiten, ohne zu verurteilend zu sein?

Erzieher sollten relativ cool bleiben und nicht dramatisieren. Zu dem Mädchen könnten sie sagen: „Hör mal zu, Du darfst keine Kinder dazu überreden, Sachen zu machen, die sie vielleicht gar nicht wollen. Ich verstehe Deine Neugier, ein Penis ist interessant. Vielleicht kommt es beim Spielen mal dazu, dass Ihr Euch gegenseitig anschauen könnt – aber nicht, indem Du ihn überredest.“

Beim an die Brust fassen könnte die Erzieherin so reagieren: „Ich habe Dir schon dreimal gesagt, ich will das nicht. Lass es bitte bleiben, ich fühle mich dabei nicht wohl und es tut mir auch weh.“

Das Kind sexualisiert die Brust zwar noch nicht, kriegt aber von den Erwachsenen schon mit, dass da etwas diffuses Verbotenes ist. Weiter könnte im Gespräch mit dem Kind deshalb geklärt werden: „Du interessierst Dich sehr für Brüste. Was möchtest Du dazu wissen?“ Es könnte dazu etwas erzählt werden, um die Neugier zu stillen: Dass es Brüste in verschiedenen Größen gibt, welche Funktion sie haben oder Ähnliches.

Schaffen es viele Erzieher, so mit den Kindern zu sprechen?

Ich glaube, es ist Übung und eine Sache der Haltung. Wenn man Sexualität als unnatürlich ansieht und selbst Vorbehalte hat, darüber zu sprechen, wird es schwieriger. Teamübungen dazu wären ein guter Weg.

Was ist ein No-Go in Bezug auf Sexualpädagogik in der Kita?

Die Annahme, dass man Sexualpädagogik in der Kita gar nicht braucht. „Wozu schlafende Hunde wecken? Den Stress mit den Eltern tun wir uns gar nicht an.“

Defacto ist es aber so, dass jeder Mensch, der mit Kindern arbeitet, auch sexualpädagogisch arbeitet. Denn die sexuelle Entwicklung manifestiert sich in vielen Bereichen, die gar nicht sexuell sind. Es geht um die vielen Geschichten, die wir in uns tragen unter anderem, wie wir gelernt haben, mit Bedürfnissen umzugehen. Ob wir uns darauf verlassen konnten, dass sie gestillt werden. Ob wir unsere Körper genießen konnten.

Dazu passt ein Zitat von Ihnen, das ich in einem anderen Interview gehört habe: „Alle Kinder tragen Geschichten in sich, bevor sie in die Pubertät kommen, diese Geschichten werden geschrieben in der frühsten Kindheit.“ Dazu zählen Beziehungsgeschichten, Körpergeschichten, Geschlechtsgeschichten und Bedürfnisgeschichten.

Das bedeutet jedoch auch, dass jedes Kind sehr individuelle Voraussetzungen mitbringt. Einfache Rezepte im Umgang mit kindlicher Sexualität kann es gar nicht geben, oder?

Genau, es soll eine individuelle Förderung erfolgen. Wie es individuelle Förderpläne gibt, die für jedes Kind einzeln erstellt werden, könnte die sexuelle Entwicklung Teil dieses Förderberichts sein. Dazu sollte das Team abstimmen: Wie sieht es aus bei dem Kind, was benötigt es? Wie viel körperliche Nähe ist angebracht? Hat sich dahingehend etwas verändert in der letzten Zeit? Es ist sehr interessant, wenn solche Abweichungen dokumentiert werden und nachgeforscht wird, was eventuell zu einer Wesensveränderung geführt hat.

Erzieher sollten sich am besten an den Kindern orientieren. Sie kommen mit ihren Fragen und Bedürfnissen. Wenn man sich davon leiten lässt, kann man nicht zu viel falsch machen. Nicht alle Kinder mögen Explorationsspiele, also Doktorspiele. Sie müssen es natürlich auch nicht machen. Andere finden es gut und für diese Kinder wäre es sinnvoll, dass die entsprechenden Freiräume gegeben sind.

Es ist zudem wichtig, den Kindern Reflexionsmöglichkeiten zur eigenen sexuellen Identität und Geschlechterrollen anzubieten. Geschlechterrollen können bewusst in Frage gestellt oder umgedreht werden. In meinem Buch „Kinderschutz: Sexualerziehung in der Kita“ habe ich eine Praxisübung beschrieben: ein Boysday oder ein Girlsday, bei dem alle als Jungen beziehungsweise als Mädchen verkleidet in die Kita kommen. Das Spielerische hat viele Vorteile: Die Kinder schämen sich weniger, wenn sie Rollen spielen können, die erst einmal nichts mit ihnen zu tun haben. Das Scharmgefühl entwickelt sich nämlich bereits ab dem 4. Lebensjahr.

Wie erarbeiten sich Kitas Konzepte zur Sexualpädagogik beziehungsweise Schutzkonzepte am besten?

Die Konzepte müssen auf jeden Fall individuell den Gegebenheiten angepasst werden und lassen sich nicht bei anderen abschreiben. Es gibt je nach Bundesland Beratungsstellen, die bei einem solchen Konzept helfen können. Die sollten schon im Vorfeld ins Boot geholt werden, am besten, bevor ein Missbrauchsfall eintritt. Dazu zählt beispielsweise der Verein Wildwasser – Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen.

Die Bausteine für die Konzepte sind meist sehr ähnlich: Wir brauchen Beteiligung von den Kindern (Stichwort Partizipation), von den Eltern und eine Unternehmenskultur, die wertschätzend angelegt ist. Darüber hinaus ist eine Risiko-Potential-Analyse sinnvoll. Dabei wird geschaut: Was haben wir schon für den Schutz getan? Oder: Wo sind unsere blinden Flecken? Man könnte ältere Kinder dafür mit Kameras losschicken und fotografieren lassen, in welchen Räumen sie sich wohlfühlen und wo eben nicht.

Als Weiteres kommt das Leitbild dazu, die Selbstverpflichtungserklärung, ständige Schulungen auf allen Ebenen bis zum Küchenpersonal. Es braucht auch einen Social Media-Guide.

Wie sollten Erzieher handeln, wenn es einen Verdachtsfall auf Missbrauch in der Kita gibt?

Sie können sich beraten lassen und das Netzwerk aktivieren, damit sie mit ihren Gedanken nicht allein bleiben. Es wird immer kritisch, wenn Kinder von Erlebnissen berichten, die eindeutig nicht mehr der kindlichen Sexualität zuzuordnen sind. Wenn zwei Jungen miteinander spielen und der eine will dem anderen die Hose runterziehen, um ihm seinen steifen Penis in den Anus zu stecken. Das sind Alltagssituationen, die vorkommen können – aber darauf kommt kein Kind von allein. Der Hintergrund war in diesem Fall, dass der Junge einen Porno auf dem Laptop seines Vaters gefunden hat. Das kann für Kinder verstörend sein und sie versuchen, das Gesehene zu re-inszenieren.

Haben Sie noch einen abschließenden Tipp für Erzieher und Leitungen zum Themenbereich Sexualpädagogik?

Am besten kann man alles mit einer gesunden Portion Humor bewältigen. Wenn es um die Eltern geht, sollten diese mit ihren Ängsten und Vorbehalten ernstgenommen und mit ins Boot geholt werden. Denn der Hintergrund ist, dass die Kinder geschützt werden sollen.

Herr Kröger, vielen Dank für das Gespräch über Sexualpädagogik in der Kita und die aufschlussreichen Praxisbeispiele!

Spielt Sexualpädagogik in Eurer Einrichtung eine Rolle? Wie steht Ihr dazu? Erzählt uns davon auf unserem Instagram- oder Facebook-Kanal!

Von Mirjam Blake

Medienwissenschaftlerin, Texterin, Journalistin, Träumerin

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