Greife ich als ErzieherIn ein, wenn Erziehungsberechtigte anwesend sind?

Eine kniffelige Frage! Zur Beantwortung stellen wir uns zuerst folgende Szenarien vor: Die Eltern eines Kindes sind bereits in der Kita angekommen und wollen ihr Kind abholen. Jedoch hat das Kind andere Pläne und möchte lieber noch weiterspielen. Aus dieser Situation heraus entstehen dann diverse Konflikte. Das Kind beginnt zu schreien und gegen Möbel zu treten. Die Mutter steht relativ ratlos daneben. Und dann kommt sie – die Frage: Greife ich als ErzieherIn ein?

Ein weiteres Beispiel: Ein Kind wird abgeholt. Während die Mutter dem Kind die Schuhe anzieht, drückt das Kind wie verrückt geworden auf dem Lichtschalter herum. Die Mutter bemerkt das Verhalten schon, ist aber froh, dass ihr Kind diesmal „nur“ mit dem Betätigen des Lichtschalters beschäftigt ist und lässt es weitermachen. Und? Reagiere ich da?

Das dritte Beispiel: In Begleitung der Mutter rennt ein Kind sofort zu einem anderen Kind und beginnt es zu hauen. Die Mutter tadelt ihren Spross zwar, aber eine wirkliche Wirkung erzielt das Ganze nicht. Eingreifen, oder nicht?

Im letzten Beispiel möchte ein Vater seinen Sohn abholen. Doch anstatt, dass dieser sich freut, beginnt er beim Anziehen heftig seinen Vater zu treten. Sag ich dazu etwas oder lieber nicht?

Vier wundervolle Beispiele und alle haben eines gemein: Beide Parteien, Erziehungsberechtigte und ErzieherIn, bekommen die Situationen gleichermaßen mit. Doch was ist richtig? Wer ist für das Kind verantwortlich?

Wann sollte ich als ErzieherIn reagieren und übernehmen?

Betrachten wir das Ganze einmal ganz sachlich. Nämlich rein rechtlich. Dann wird schnell klar, was eigentlich gilt:

Sobald die Erziehungsberechtigten bei ihren Kindern sind, haben sie die Aufsichtspflicht. Das bedeutet auch: Wenn ein Kind abgeholt wird, geht die Aufsichtspflicht auf die abholende Person über. Und obwohl sich noch Sachen im Kita-Gebäude abspielen, sind die ErzieherInnen raus aus der Sache. Das heißt in allen Beispielen sind rein rechtlich gesehen Eltern für das Handeln ihrer Kinder verantwortlich. Sie sind in der Pflicht, ihre Kinder entsprechend zu erziehen. So weit so gut.

Das ist jedoch nur der rechtliche Aspekt

Solche Situationen lassen sich nicht nur aus der rechtlichen Perspektive betrachten. Viele alltägliche Situationen mit den Kindern und deren Erziehungsberechtigten lassen uns oft innerlich verzweifeln.

Im Kopf der ErzieherInnen beginnt sich nämlich das Gedankenkarussell zu drehen: Man ist rechtlich nicht dazu verpflichtet, einzugreifen und möchte die Mutter oder den Vater nicht bloßstellen bzw. sie peinlich berühren, weil es jemand anderes vermeintlich besser hinbekommt als sie selbst. Andererseits wollen ErzieherInnen nicht jedes Verhalten tolerieren, dass sich unter ihren Augen abspielt. Ein Verhalten, was in der Kita nicht geduldet wird und was man unbedingt unterbinden will – da es die Erziehungsberechtigten ja nicht tun. Des Weiteren ist man oft auch gewillt, den Eltern unter die Arme zu greifen. In solchen Situationen wirken sie oft nicht nur hilflos – sondern sie sind es.

Cool bleiben und Abstand gewinnen

Es gibt definitiv keinen konkreten Fahrplan… Jede Situation muss individuell betrachtet werden. Es gilt, zu beobachten und abzuwägen.

Hat man die Situation analysiert, handelt man. Und das bedeutet, dass man entweder eingreift oder der Situation eben freien Lauf lässt. Oder aber, und das ist die dritte Möglichkeit: Man verlässt die Situation und lässt die Erziehungsberechtigten mit dem Kind alleine.

Wenn man sich dazu entscheidet einzugreifen, kann die anwesende Person auch immer gefragt werden, ob es okay wäre, wenn man als Erzieherin unterstützt.

Doch bevor man die Situationen zu analysieren beginnt, ist es ratsam auch immer einen Blick auf die Erziehungsberechtigten zu werfen. Welchen Typ an Eltern habe ich gerade vor mir?

Tatsächlich sind viele Eltern wirklich hilflos, verunsichert und wissen nicht, wie sie die jeweilige Situation bewerkstelligen sollen. Manche fühlen sich von den ErzieherInnen vielleicht sogar kontrolliert und wollen mit dem Kind weder zu hart noch zu weich umgehen, wenn andere dabei sind. Für Eltern ist es nicht leicht aus der Flut von Erziehungstipps und Erziehungsstilen den richtigen Mittelweg zu finden. Gerade in der Abholsituation kommen einige direkt von der Arbeit, sind noch gestresst. Dass das Kind nicht „mitspielt“ bedeutet für sie zusätzlichen Druck, was schnell zur Überforderung führen kann.

Mit diesem Hintergrundwissen sollte jede Situation für sich betrachtet werden.

Bezüglich unserer Beispiele bedeutet das, dass für den ersten und zweiten Fall die Praxiserfahrung der ErzieherInnen gefragt ist. Fällt das Kind öfter durch Provokation auf? Will es beim Wiedersehen mit der Mutter um jeden Preis ihre volle Aufmerksamkeit? Wie ErzieherInnen verfahren, ist auch Typfrage und ob ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Müttern besteht. Manche ErzieherInnen bringen vielleicht einen kleinen, frechen Spruch, der einerseits die Situation auflockert und andererseits das Kind ablenkt, sodass es seine Wut bzw. den Lichtschalter vergisst. Andere schreiten erst ein, wenn sich die Szene länger hinzieht.

Gibt es regelmäßig heftigere Auseinandersetzungen beim Bringen oder Abholen, kann den Müttern ein Gespräch angeboten werden, um mehr über die aktuelle Lebenssituation und mögliche Erziehungsfragen zu erfahren.

Ein direktes Eingreifen der ErzieherInnen könnte die Mütter zusätzlich verunsichern und auch dem Kind die falschen Signale senden. Falls die Situationen jedoch zu sehr eskalieren, ist es ratsam sich als Zwischeninstanz vorsichtig einzuschalten, wenn die Mütter es erlauben.

Im dritten Beispiel sollte eingegriffen werden, denn es besteht Aufsichtspflicht für das Kind, was gehauen wird. Das aggressive Kind sollte aus der Situation bzw. dem Raum herausgeführt werden, bis es sich wieder beruhigt. Es kann abgesprochen werden, ob ErzieherInnen oder Erziehungsberechtigte diesen Part übernehmen. Verhält sich das Kind öfter auffällig, sollte mit den Eltern ein Gespräch über die Ursache geführt werden.

Wenn ErzieherInnen in der vierten Situation wissen, dass der Vater normalerweise solche Situationen gut selbst regelt, können sie die Situation verlassen. Wahrscheinlich ist er „unter Beobachtung“ etwas verunsichert.

Dürfen ErzieherInnen einschreiten, wenn sich Erziehungsberechtigte daneben benehmen?

Es sind nicht nur die Kinder, die für Aufregung beim Bringen oder Abholen sorgen. Manche Eltern gehen zu weit  in ihrem Verhalten den ErzieherInnen gegenüber. Die einen können selbst mit gut gemeinter Kritik nicht umgehen, andere werden aggressiv, wenn sie meinen, ihr Kind würde keine fürstliche Behandlung erhalten. In einigen Fällen können auch Trennungen und Sorgerechtsstreit ihre Schatten auf den Kita-Alltag werfen. Sollten Erziehungsberechtigte laut werden oder drohen, darf sofort eingegriffen werden – auch wenn das Kind anwesend ist. ErzieherInnen müssen sich das Verhalten nicht bieten lassen und können natürlich auch Ihren KollegInnen in einer solchen Situation schützend zur Seite stehen. Die Klärung sollte im weiteren über die Kita-Leitung laufen, die alles so genau wie möglich dokumentiert und an die Träger, Gemeinde oder Stadtverwaltung weitergibt.

Lässt sich die Situation nicht klären, indem ein gemeinsames Gespräch mit dem Erziehungsberechtigten geführt wird, bestehen bei wiederholten Vorfällen weitere Möglichkeiten: Hausverbot, Strafanzeige und/oder Kündigung des Betreuungsvertrages.

Unser Fazit:

Ob ErzieherInnen eingreifen, wenn ein Erziehungsberechtigter anwesend ist, ist nicht klar mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten.

Jede Situation muss ganz individuell betrachtet werden. Wie verhält sich das Kind in letzter Zeit? Wie sind die Eltern eingestellt? Wie werden die Kinder normalerweise erzogen? Sind andere Kinder in Gefahr?

Hat man all diese Fragen im Kopf durchgespielt, heißt es die richtige Entscheidung zu treffen und einzugreifen…oder eben nicht.

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